Das Langstrumpf-Prinzip (1): Die Grenzen des Nicht-Binären 

“… ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt …“, trällerte Pippi Langstrumpf. Aber auch andere haben sich dieses Motto auf die Fahnen geschrieben. Zum Beispiel … 

Letztes Jahr tobte – wieder einmal – ein Streit über die Anzahl der menschlichen Geschlechter. Ein Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht wurde vom Humboldt-Forum abgesagt, weil die von Vollbrecht vertretene These “Es gibt biologisch nur zwei Geschlechter trans-feindlich sei. 

———————-
Einschub: Frau Vollbrecht lehnt auch das neue Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag ab, was möglicherweise der Hauptgrund für die Attacken auf sie ist. Auf dieses Themenfeld werde ich hier nicht im Detail eingehen. 
Ich persönlich bin übrigens für die Abschaffung des Geschlechtseintrags: Zunächst ist wegen der bereits eingeführten Geschlechterkategorie divers die alte binäre Unterscheidung nicht mehr praktikabel. Und vor allem darf laut Grundgesetz niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt werden, weshalb es den Staat auch nicht interessieren muss, welchen Geschlechts eine Person ist. Für die Frage, welche Personen an welchem Tag in die Sauna dürfen, wird man künftig andere Kriterien als das amtliche Geschlecht heranziehen müssen.
——————-

Die Frage “Gibt es zwei oder 2000 biologische Geschlechter?” ist eigentlich unspannend: Die korrekte Antwort hängt davon ab, wie ich biologisches Geschlecht definiere. Verkompliziert wird die Diskussion durch die These, Geschlecht sei nur ein soziales Konstrukt, das folglich dekonstruiert und neu konstruiert werden kann. 

Diese These ist richtig, solange man ihren Gültigkeitsbereich nicht überdehnt. Im englischen Sprachraum wird meist zwischen Sex (biologischem Geschlecht) und Gender (sozialem Geschlecht) unterschieden. Entlang dieser Unterscheidung könnte Gender der Teil der geschlechtlichen Identität sein, der sozial und kulturell konstruiert ist. Aber so einfach ist die hinter diesem Streit stehende Theorie nicht … 

Daher nehme ich die Begriffe Sex und Gender wieder aus meiner Betrachtung und versuche mich mit einem anderen Modell. 

Geschlecht drückt sich beim Menschen auf fünf verschiedenen Ebenen aus: 

  1. Die Konstellation der Geschlechts-Chromosomen, XX für weiblich, XY für männlich, gibt bei den meisten Menschen vor, wie sich die Geschlechtsmerkmale entwickeln. Bei einer kleinen Gruppe von Menschen fehlt ein zweites Geschlechts-Chromosom oder die Zahl der Chromosomen ist größer als zwei. Auf Ebene der Chromosomen finden wir also Variationen – allerdings sind diese (mit heutigen Methoden) nicht veränderbar und schon gar nicht sozial determiniert. 
  1. Die primären Geschlechtsmerkmale werden in der Regel von der Chromosomen-Konstellation vorgegeben: Vagina oder Penis, Eierstock oder Hoden usw. Auch hier gibt es Ausnahmen, bei denen die Geschlechtsmerkmale nicht zu den Chromosomen passen, nicht eindeutig sind oder beide Alternativen vorhanden sind. Chirurgisch lassen sich primäre Geschlechtsmerkmale anpassen, allerdings ist ein vollständiger Umbau – Stand heute – nicht möglich. In jedem Fall sind primäre Geschlechtsmerkmale kein soziales Konstrukt. 
  1. Weniger eindeutig sind die sekundären oder tertiären Geschlechtsmerkmale: Nicht immer lassen sich Menschen auf Grund ihrer sekundären Merkmale einem Geschlecht zuordnen, bei tertiären sind nur statistische Aussagen möglich. Sekundäre Merkmale lassen sich durch Chirurgie und vor allem Hormongaben beeinflussen. Die tertiären Geschlechtsmerkmale werden zum Teil durch Ernährung und sportliche Betätigung beeinflusst – also durch soziale Faktoren. 
  1. Die öffentliche Diskussion über geschlechtliche Identität dreht sich in den letzten Monaten um die Frage, ob sich eine Person mit seinem in obigen drei Punkten beschriebenen Geschlecht identifiziert: eine Art psychologisches Geschlechtsempfinden, das im Widerspruch zu den körperlichen Merkmalen stehen kann. Dieser Widerspruch kann manchmal schon durch eine Änderung des Vornamens und des offiziellen Geschlechtsstatus abgemildert werden (siehe Einschub oben). In anderen Fällen kann das Gefühl, im einem falsch entwickelten Körper zu leben, nur durch Chirurgie und (möglicherweise lebenslange) Hormongaben behoben werden. 
  1. Davon zu unterscheiden ist der Widerstand gegen die mit der eigenen Körperlichkeit verbundenen Rollenerwartungen. Dieser Konflikt ist zahlenmäßig viel relevanter als der vorige – und er ist auch der einzige, der durch das soziale Konstrukt Geschlecht hervorgerufen wird. Obwohl in der westlichen Welt die Gleichberechtigung der Geschlechter gesetzlich vorgegeben ist, gibt es immer noch Unterschiede beim Gehalt, bei Karrieremöglichkeiten und auch beim erwarteten sozialen Verhalten. Hier existiert in der Tat immer noch Verbesserungspotential – und Handlungsmöglichkeiten. 

Zurück zur gesellschaftlichen Diskussion über dieses Thema. 

Kein Gesetz verbietet, sich heute als Frau, morgen als Mann und übermorgen als Something-completely-different zu geben. Analoges gilt für die Partnerwahl. Auch Geschlechts-anpassende Operationen sind nicht mehr ungewöhnlich. All dies ist das Ergebnis eines langen Kampfes gegen die Vorgaben einer auf sexuelle Zucht und Ordnung bedachten Gesellschaft. Die mögliche Freude über theoretisch unbegrenzte Möglichkeiten, die eigene sexuelle Identität zu leben, wird jedoch durch zwei Punkte getrübt: 

  1. Der Ruf nach Zucht und Ordnung ist keineswegs verstummt. Rechtskonservative/-radikale Gruppen rufen immer wieder zur Unterdrückung eines in ihren Augen “widernatürlichen Verhaltens” auf. 
  1. Während auf sozialer Ebene die Spielräume vergrößert wurden, blieb der eigene Körper wenig flexibel: Die Chirurgie kann zwar die Frage “Penis oder Vagina – oder beides?” bearbeiten – aber nicht beliebig schnell und sicher auch nicht beliebig oft. 

Für beide Punkte kann Frau Vollbrecht nichts. Worin liegt nun die Trans-Feindlichkeit des Vortrags von Frau Vollbrecht? Darin, dass sie die in den obigen Punkten 1, 2 und 3 beschriebenen Variationen der Geschlechtlichkeit nicht ausreichend würdigt, sondern sich auf ein “Es gibt zwei Geschlechter” festlegt? (Sie würde vermutlich die von mir beschriebenen Variationen nicht leugnen.) 

Ich vermute jedoch, dass es bei diesem Streit nicht um biologische Variationen geht: Im Zentrum des (medialen) Interesses stehen selten Personen, die sich wegen ihrer Genetik oder ihrer Geschlechtsmerkmale einer einfachen Zuordnung entziehen, sondern Personen, die sich bewusst einer einfachen Zuordnung widersetzen.

Die wirklich große heroische Erzählung liest sich so: Der Mensch begibt sich (möglichst früh im Leben) auf eine mystische Suche nach seiner wahren geschlechtlichen Identität. Als erster Schritt muss das soziale Geschlecht dekonstruiert und neu geformt werden. Jedoch reicht eine Ablehnung sozial vorgegebener Rollen (Punkt 5 oben) oder die Auflösung von Konflikten zwischen körperlichen Merkmalen und dem empfundenen Geschlecht (Punkt 4 oben) nicht aus. Ist die ganzheitliche nichtbinäre Geschlechtsidentität schließlich gefunden, wird die Beschaffenheit des leider unflexiblen Körpers ignoriert: Die Person ist ihre neue geschlechtliche Identität – nicht nur sozial, sondern auch körperlich. 

Gegen diese Sicht ist nichts einzuwenden, solange sie als subjektive Wahrnehmung (“so fühle ich mich”) vorgebracht wird. Doch dann schlägt manchmal das Langstrumpf-Prinzip zu und die subjektive Sicht wird als wissenschaftlicher Beweis eingereicht: “Meine neue geschlechtliche Identität beweist die Vielfalt der (biologischen) Geschlechter.”

Hinterlasse einen Kommentar