Falsch gewählt

Die TürkInnen haben gewählt und haben Erdogan im Amt bestätigt. Sicher kein Grund zum Jubeln: Die Demokratie unter Erdogan hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer Halb-Autokratie entwickelt, in der Oppositionelle schnell mal wegen unbotmäßiger Äußerungen („… hat die Ehre von … beleidigt …“) eingesperrt werden und die meisten Medien sich der Führer-Lobhudelei verschrieben haben.

So weit – so schlecht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Wahlverhalten der „Deutsch-Türken“ – und vor allem die Reaktion deutscher Politiker auf dieses Wahlverhalten. Am weitesten hat sich Cem Özdemir aus dem Fenster gelehnt und eine „Zeitenwende“ im Umgang mit der Türkei gefordert. Konkret geht es Özdemir um islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen und die Ausbildung der im Deutschland wirkenden Imame. Die Unterstellung dabei: Über die religiöse Schiene werde in Deutschland Werbung für Erdogans Politik gemacht.

Da mag was dran sein, aber das ist sicher nicht die einzige Erklärung für das Wahlverhalten der Türken in Deutschland. Aber die Analyse des Wahlverhaltens möchte ich gerne den Wahlforschern überlassen.

Viel interessanter finde ich die Kritik an den Wählern: „… während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen“ (Özdemir). Schon undankbar, diese Wähler. Hat mich an meine Jugend erinnert: „Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es euch geht.“

Bevor ihr nun losmarschiert und einem Kollegen mit türkischen Migrationshintergrund eine Abreibung verpasst, solltet ihr euch erst mal fragen, ob dieser Kollege wirklich Erdogan an die Macht gewählt hat. 2,8 Millionen in Deutschland lebende Personen haben einen türkischen Hintergrund. Davon waren 1,5 Millionen bei der Stichwahl ums Präsidentenamt wahlberechtigt. (Nur wer die türkische Staatsangehörigkeit hat, durfte wählen.) Von diesen Wahlberechtigten hat ungefähr die Hälfte gewählt – 750 000. Zwei Drittel davon haben Erdogan gewählt, also rund 500 000 – von 2,8 Millionen. Also grob 18%. So hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kollege tatsächlich Erdogan gewählt hat.

Noch etwas mehr Zahlen?

Bei der Wahl waren 64 Millionen TürkInnen stimmberechtigt, grob 90% haben von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, etwas unter 60 Millionen. Um aus dem 52%-Erfolg von Erdogan ein Patt zu machen, hätten 2% der WählerInnen anders abstimmen müssen – also ungefähr eine Million. Wenn also sämtliche 500 000 WählerInnen, die in Deutschland für Erdogan gestimmt haben, sich anders entschieden hätten, wäre Erdogan trotzdem gewählt worden. Wäre in Deutschland (67% für Erdogan) so abgestimmt worden wie im Rest der Wahlbevölkerung (52%), hätte dies 112 000 Stimmzettel verändert (15% von 750 000).

Genug der Zahlen. Es sollte klar geworden sein, dass Erdogan nicht durch die WählerInnen in Deutschland an die Macht gekommen ist.

Wo haben sich die Wähler denn noch verwählt? Schauen wir in die USA. Im Jahr 2016 erhielt Donald Trump rund 63 Millionen Wählerstimmen (46,09%) und wurde Präsident. Im 2020 erhielt Donald Trump rund 74 Millionen Wählerstimmen (46,8%) und wurde nicht Präsident. Die in Deutschland veröffentlichten Wahlanalysen gingen kurz auf die Gründe für das Ergebnis 2020 ein (höhere Wahlbeteiligung, die seltsame amerikanische Wahlprozedur, …).

Damit war genug analysiert und es galt das Narrativ „Die USA sind wieder Teil der westlichen Wertegemeinschaft.“. Während 2016 viel über russische Einflussnahme und Micro-Targeting philosophiert wurde, war das 2020 kein Thema: Die US-AmerikanerInnen hatten den „richtigen“ Präsidenten gewählt, da braucht es keine Verschwörungserzählung – obwohl sich in absoluten Zahlen noch viel mehr AmerikanerInnen verwählt hatten.

Besonders heftig verwählt hatten sich die Ägypter im Jahr 2012: Der gewählte Präsident Mursi wurde nach Bürgerprotesten gegen Eingriffe in die Verfassung vom Militär 2013 gleich wieder abgesetzt. Ob diese Absetzung dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entsprach, konnte nicht mehr ermittelt werden, da mit Mursi auch gleich demokratische Wahlen wieder abgeschafft wurden: Man musste die Bevölkerung vor erneutem Verwählen schützen. Diese Sicht schien auch der Wertewesten zu teilen, da sich die Proteste gegen den Militärputsch in engen Grenzen hielten.

Damit sind wir bei der Kernfrage: Wie gehen wir mit Wahlergebnissen in anderen Ländern um, die uns nicht gefallen? Drei Aspekte sind zu berücksichtigen.

Hat die Bevölkerung vor der Wahl die Möglichkeit, sich objektiv eine Meinung zu bilden?

Wir nehmen stillschweigend an, dass in westlichen Demokratien

  • den BürgerInnen genügend Informationen für eine Wahlentscheidung zur Verfügung stehen
  • nicht versucht wird, durch Gerüchte und Fehlinformationen die Wählermeinungen zu manipulieren
  • alle BürgerInnen auch die verfügbaren Informationen sorgfältig zu studieren, bevor sie sich eine Meinung bilden.

In Ländern wie der Türkei sei das dann nicht der Fall: „Die Leute wissen ja nicht, was sie wählen – auch die in Deutschland lebenden Türken.“

Dabei ist schon die Idealisierung der westlichen Wahlen hemmungslos naiv:

  • Immer mehr Medien sind in der Hand von immer weniger Eigentümern, die gerne ihre eigene Weltsicht im Inhalt repräsentiert sehen wollen (Beispiele: Rupert Murdoch, Springer-Konzern). Mit der Arbeit von Medien soll Geld verdient werden – und das Geld kommt weniger von den Lesern als von den Werbekunden, die natürlich Berichterstattung in ihrem Sinne wünschen. Selbst im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk können politische Parteien Druck auf Redaktionen ausüben.
  • Fake-News und Stimmungsmache in den Medien (von FAZ über BILD bis zu Social Media) ist Alltagsgeschäft.
  • BürgerInnen haben sich schon immer eher von Emotionen leiten lassen und sich nicht mit langen Analysen von Wahlprogrammen beschäftigt.

Unsere Einschätzung von Abstimmungen in fremden Ländern folgt dabei einem relativ einfachen Muster: Wenn die Wahlen in unserem Sinn ausgegangen sind, konnten sich die Wähler eine objektive Meinung bilden (USA 2020, Wiederwahl von Macron in Frankreich ) – wenn nicht, war das Volk falsch unterrichtet (USA 2016, Türkei 2023, BREXIT, …).

Verlaufen die Wahlen fair?

Dabei geht es nicht nur um die Manipulation der Stimmauszählung, sondern um die Möglichkeit, überhaupt seine Stimme abgeben zu können. Das ist in westlichen Demokratien in der Regel gegeben.

Aber auch nicht immer. Gerade in den USA sind die Beispiele Legion, in denen potentiellen WählerInnen durch immer neue Hürden die Stimmabgabe erschwert oder unmöglich gemacht wurde.

Es bedarf einer langen demokratischen Tradition, damit WählerInnen nicht vom Wählen abgehalten werden, damit Stimmen nicht gekauft werden, damit Stimmzettel nicht von den falschen Personen ausgefüllt werden, damit Stimmzettel nicht verschwinden. Die demokratische Tradition ist in vielen Ländern eher frisch (auch in den USA, in denen keineswegs immer „One Man – one Vote“ galt) – oder war noch nie vorhanden.

Auf der anderen Seite wird es immer mehr guter Brauch, nach einer verlorenen Wahl (manchmal inzwischen schon prophylaktisch vor der Wahl) Wahlbetrug zu unterstellen. Seltsamerweise nicht nur von der Opposition, die eigentlich den größeren Anlass für Misstrauen hätte, sondern sogar von der Regierung (siehe Trump 2020, Brasilien 2022). Dabei ist es auch nebensächlich, ob internationale Wahlbeobachter Manipulationen bei der Stimmauszählung beobachtet haben oder nicht: Wenn der gefühlte Wählerwille sich nicht im Wahlergebnis wiederfindet, gilt die Parole „Wir sind um den Sieg betrogen worden“.

Wir Deutschen sind als Außenstehende schnell dabei, die Wahrscheinlichkeit von Manipulationen bei der Stimmabgabe am Ergebnis festzumachen: Ein Abstimmung, die in unserem Sinn ausgegangen ist, kann nicht manipuliert gewesen sein.

Dagegen stehen „Fehlentscheidungen“ der Wähler gerne unter Manipulationsverdacht. Und wenn ein Teil der Bevölkerung deshalb auf die Straße geht, gehört diesem (noch so kleinen) Bevölkerungsteil die Sympathie von uns Deutschen.

Was kann das Volk tun, wenn ihm die Entscheidungen der Regierung nicht gefallen?

Wenn das Volk den Eindruck hat, sich verwählt zu haben, kann in einer repräsentativen Demokratie das Volk auf die Straße gehen oder in Meinungsumfragen schlechte Noten verteilen. Wenn das die Regierung nicht beeindruckt, war es das: So war es bestellt – so wird es gegessen. Bis zur nächsten Wahl ist der Unmut hoffentlich verraucht, hofft die Regierung.

Da mag die Regierung eines Landes nach einem Jahr fast allen Kredit verspielt haben. Solange wir Deutschen die Entscheidungen dieser Regierung für richtig halten, muss deren Programm durchgezogen werden. Beispielhaft in der Finanzkrise ab 2009: Mochte die Bevölkerung anderer EU-Länder noch so unter Sparprogrammen ächzen: Da „alternativlos“ ist Volkes Wille uninteressant. (Der griechischen Regierung wurde sogar verboten, eine Volksabstimmung über die Sparmaßnahmen abzuhalten.)

Anders sieht es natürlich aus, wenn eine fremde Regierung nicht gemäß unseren Interessen agiert. Da wird dann schnell eine Demonstration der jeweiligen Opposition zum Symbol des Volkszorns, der die (aus unserer Sicht) unfähige und korrupte Regierung hoffentlich bald aus dem Amt vertreiben wird (mehrfach in Bulgarien und Rumänien, Ägypten 2013, Ukraine 2013, Georgien 2022, Jugoslawien 2023, …). Ob die Demonstranten tatsächlich die Mehrheitsmeinung vertreten, ist uns dabei nicht so wichtig.

…. und die Moral von der Geschicht‘?

Wahlen können Ergebnisse bringen, die für Außenstehende unverständlich sind oder gar blankes Entsetzen hervorrufen. Dennoch ist ein Wahlergebnis legitim, solange nicht Druck ausgeübt oder an den Wahlurnen manipuliert wurde. Dass uns ein Wahlergebnis nicht in den Kram passt, delegitimiert die Wahl nicht.

Der Vorwurf, dass die BürgerInnen vor der Wahl durch voreingenommene Medien und falsche Wahlversprechen in die Irre geführt wurden, trifft oft zu – aber nicht nur in (halb-)autokratischen Staaten.

Auf der anderen Seite zeigt lautstarker Protest auf den Straßen nicht unbedingt an, dass die Regierung keinen Rückhalt in der Bevölkerung hat.

Und 112 000 türkisch-stämmige Wähler in Deutschland haben nicht die Wahl in der Türkei entschieden …

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