Ein Gespenst geht um in Deutschland

In meiner Jugend verfolgte ich fasziniert die populärwissenschaftlichen Sendungen von Prof. Heinz Haber. Haber wurde nach dem 2. Weltkrieg zusammen mit anderen deutschen Wissenschaftlern (z.B. Wernher von Braun) in die USA verbracht, um insbesondere das deutsche Wissen in der Raketentechnik abzugreifen.

Bevor er Ende der 50er wieder nach Deutschland zurückkehrte, moderierte er den Atomkraft-Werbefilm „Unser Freund das Atom“ für den Disney-Konzern. Kernbotschaft: Die Atombombe war schrecklich – aber die „gezähmte Atomkraft“ wird unser Freund sein. (Es lohnt sich den Film noch einmal anzusehen, um die Erwartungen nachvollziehen zu können, die in dieser Zeit mit der Atomkraft verbunden wurden.)

Interessant ist übrigens die Parallele zu den Erwartungen, die heutzutage mit den Erneuerbaren Energien verbunden werden: „Wir müssen nur genügend Kapazität zur Energieerzeugung aufbauen, um mit der dann verfügbaren Elektrizität ein tolles Leben führen zu können.“

Wir wissen, dass es dann doch etwas anders kam. Wie so oft lag der Teufel im Detail. Ohne die ganze Diskussion über Atomkraft abspulen zu wollen, hier noch einmal einige der Details:

  • Gibt es überhaupt genügend Uran, um über einen längeren Zeitraum durch die bloße Spaltung von Uran-235 Energie zu erzeugen?
  • Müssen wir daher nicht zusätzlich auch noch Plutonium erbrüten, um die vorhandenen Vorräte besser auszunützen? Und sind die dazu notwendigen Brutreaktoren technisch beherrschbar?
  • Wohin mit den radioaktiven Abfällen, vor allem wenn man in einen Plutonium-Kreislauf einsteigt?
  • Wie verhindert man, dass Atomkraftwerke das Ziel von Terroranschlägen werden?
  • Wie verhindert man, dass Atombrennstoff entwendet wird, um daraus Bomben zu bauen?
  • Wie hoch ist die Total-Cost-of-Ownership (Gesamtkosten vom Aufbau über Betrieb und Entsorgung der Atomabfälle bis zum abgeschlossenen Rückbau), wenn man maximale Sicherheit im Betrieb und Schutz gegen kriminelle Eingreife gewährleisten möchte?

Als dann Reaktor-Havarien die Bedenken der weltweiten Anti-Atomkraft-Bewegung zu bestätigen schienen, hörte man das Totenglöckchen für die Atomkraft läuten. Doch dann betrat die Klima-Überhitzung die öffentliche Bühne – und damit die Einsicht, dass die sich ständig steigernde Verbrennung von fossilen Brennstoffen dem Klima nicht gut tut. Die angestrebte Lösung: aus nicht-fossilen Energieträgern gewonnene Elektrizität zur Grundlage unseres gesamten Energieverbrauchs zu machen.

Und damit begann die heimliche Renaissance der Atomkraft: Um genügend elektrische Energie zu gewinnen, müssen sehr viele Solarmodule, Windräder, Solarthermie-Systeme o.ä. aufgebaut werden. Das kostet Zeit und Geld. Und vor allem findet die Energieerzeugung nicht in einem Kraftwerk irgendwo ganz-weit-draußen statt, sondern auf dem eigenen Dach oder durch ein Windrad in Sichtweite. Das gefällt nicht jedem.

Da eine weniger Energie-intensive Lebensweise unpopulär ist und die widerborstige Kernfusion einfach noch nicht zünden möchte, wird Professor Habers Werbe-Video aus den 50ern plötzlich wieder populär: „billiger, sicherer und CO2-frei produzierter Strom im Überfluss“. Dazu muss natürlich die Szenerie durch einen rosaroten Schleier gesehen werden:

  • Dass inzwischen einige Endlager für schwach- und mittel-radioaktive Abfälle in Betrieb und Lager für hochradioaktive Abfälle auf dem Weg sind, lässt die Abfallproblematik scheinbar als gelöst erscheinen.
  • Es werden neue Reaktortechnologien ins Spiel gebracht, die zwar über das Versuchsstadium nicht hinausgekommen sind, aber angeblich „immanent sicher“ sein sollen und im Zweifelsfall die atomaren Abfälle bis zum Element Blei herunterbrennen sollen. Natürlich ist vieles möglich, aber im Augenblick entsteht bei mir als Halb-Laie der Eindruck, dass viele präsentierte Konzepte so neu nicht sind und einige einen Wiedereinstieg in die Brüter-Technologie bedeuten würden.
  • Neue „kleine und kompakte“ Reaktoren sollen durch Serienfertigung die Kosten senken und angeblich besser handhabbar sein. Das hieße in der Praxis: Ein Vielfaches an Standorten müsste der betroffenen Bevölkerung schmackhaft gemacht werden und gegen Anschläge geschützt werden.

Da in Deutschland der organisierte Widerstand gegen Atomkraft besonders hoch ist, wird versucht, die Akzeptanz der Atomkraft in kleinen Schritten zu erhöhen:

  • Die Kombination aus dem Unwillen zu sparen, aus der Aversion gegen die Windkraft und aus der Angst vor Strommangel (als Folge ausbleibender Gaslieferungen aus Russland) macht größere Teile der Bevölkerung für die These „Atomkraft ist das kleinere Übel“ empfänglich.
  • Zunächst wurde mit dem Argument „lass die Brennstäbe doch zu Ende brennen“ der Ausstieg ins Frühjahr 2023 verschoben.
  • Dann wurde mit dem Argument „hat doch gut geklappt – daher sollten die Reaktoren betriebsbereit halten“ implizit eine Beschaffung von neuen Brennstäben gefordert. Und das nächste Argument wird lauten: „Und da man die neuen (teuren) Brennstäbe nicht im Reaktor verrotten lassen sollte, wäre es doch sinnvoll …“
  • Parallel wird der Eindruck erweckt, man könne die Atomkraft wie einen Oldtimer einmotten, um sie dann an Sonn- und Feiertagen wieder aus der Garage zu holen. Dabei benötigt die Atomkraft ihre eigenen Lieferketten und ein spezielles Biotop, die beide am Leben gehalten werden müssen, solange man nicht endgültig ausgestiegen ist.
  • Zusätzlich wird über alle willigen Medien der Eindruck erweckt, durch den technologischen Fortschritt seien die früheren Bedenken gegen Atomkraft überholt – siehe oben.

Wir werden sehen, ob dieses Gespenst in Deutschland das Ende des Ukraine-Kriegs überlebt.

2 Kommentare zu „Ein Gespenst geht um in Deutschland

  1. Bei „Unser Freund, das Atom“ in Verbindung mit 50-/60er und Walt Disney denke ich eher an „Duck and Cover“. Sonst ist mir der freundliche weißhaariger Herr gerade wieder in Erinnerung gerufen. Danke dafür!

    Was die Erwartungen anlangt: Technologie hat uns dahin gebracht wo wir heute stehen, weiter geht’s mit Technologie? *mir_wir_übel* Da lob ich mir Adam Ferguson: „Every step and every movement of the multitude, even in what are termed enlightened ages, are made with equal blindness to the future; and nations stumble upon establishments, which are indeed the result of human action, but not the execution of any human design.“ Kalter Kaffe, so circa 1794! Darauf einen Tusch.

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